Niemand mag es zugeben, doch jeder hat sie: Vorurteile. Schublade auf, Meinung rein, Schublade zu. Alle Menschen ordnen andere Menschen in Gruppen ein, um sich die Welt zu organisieren. Bei dem einen ist es ein Apothekerschrank, bei dem anderen eine einfache Kommode. Aber wann werden Vorurteile gefährlich? Darüber haben wir mit Riccardo Simonetti gesprochen; von den Fragen, was ein Vorurteil ist und was Vorurteile bewirken, bis hin zu der Frage, wie man am besten mit ihnen umgeht.
Welche persönlichen Erfahrungen hast du mit Vorurteilen gemacht?
RS
Mein ganzes Leben ist geprägt von Vorurteilen. Es hat schon in der Kindheit und Schulzeit angefangen, dass die Leute aufgrund meines Outfits oder meiner femininen Art eine bestimmte Meinung über mich hatten, ohne mich zu kennen. Sie hatten einen sehr schlechten Eindruck von mir, weil ich so ein femininer Junge war, und haben mich deswegen anders behandelt.
Was ist eigentlich ein Vorurteil?
RS
Wenn man eine Meinung zu einem Thema hat, ohne sich wirklich mit diesem auseinandergesetzt zu haben. Man hat eigentlich nichts, worauf diese Meinung aufbaut, kein theoretisches Wissen, keine persönliche Erfahrung. Trotzdem lässt man sich von ihr lenken.
Wie entstehen Vorurteile in unseren Köpfen?
RS
Aus den Erfahrungen, die wir machen, während wir aufwachsen. Und aus den Werten, die uns von unserem Umfeld vermittelt werden. Wenn die Menschen in unserem Umfeld sich sehr ähneln, bekommen wir insgesamt weniger „Denkmaterial“, als wenn sie verschieden wären. Die Gesellschaft funktioniert sehr geradlinig und gibt seit Generationen dieselben Werte weiter. Das führt oft dazu, dass wir alles, was nicht so ist wie gewohnt, sofort in einem kritischen Licht sehen. Sobald etwas anders oder neu wirkt, wird es erst mal kritisch beäugt, weil es sich von dem Muster unterscheidet, mit dem wir groß geworden sind.
Sind alle Vorurteile negativ, oder können sie auch gut sein?
RS
Vorurteile sind negativ belastet, weil sie uns daran hindern, neuen Dingen offen gegenüberzutreten. Dennoch haben Vorurteile auch einen Zweck: Sie dienen dem Selbstschutz. Deswegen würde ich nicht sagen, dass jedes Vorurteil gleich negativ ist.
Gibt es heute mehr Vorurteile als früher? Und sind sie anders?
RS
Ich glaube, wir haben in Sachen Vorurteile schon viel erreicht. Die Menschen wissen, dass man mit der eigenen unreflektierten Meinung vorsichtig sein sollte. Trotzdem sind auch ganz neue Baustellen entstanden. Gerade durch Social Media haben wir oft das Gefühl, dass wir eine Person kennen und über sie urteilen können. In diesem Moment haben wir gegenüber der Person Vorurteile, weil wir glauben, alles über sie zu wissen. Und ich glaube, dass es heutzutage viel gravierender sein kann, Leute zu verurteilen, weil wir unsere Vorurteile ganz einfach auf allen Kanälen veröffentlichen können.
Was hat Diskriminierung mit Vorurteilen zu tun?
RS
Diskriminierung betrifft vor allem Minderheiten, deren Stimmen nicht gehört werden und zu denen man nicht sofort einen Zugang hat. Vorurteile sind der Grundstein für Diskriminierung. Deswegen könnte das Ende von Vorurteilen auch das Ende von Diskriminierung bedeuten. Man sollte also versuchen, seine Vorurteile abzubauen, weil sich diejenigen, die davon betroffen sind, dann freier entfalten können. Das trägt letztlich dazu bei, dass man eine Gesellschaft formt, in der man als Individuum so geschätzt wird, wie man es verdient hat.
Wie denkst du über Diskriminierung?
RS
Ich bin zutiefst enttäuscht, wenn ich merke, wie diskriminierend unsere Welt heute ist: egal ob es um die Hautfarbe, die Sexualität oder das Stigma geht, das HIV anhaftet. Ich habe das Gefühl, dass darüber viel zu wenig gesprochen wird. Deswegen nutze ich meine Stimme, um auf solche Dinge aufmerksam zu machen, weil ich genau weiß, wie es sich anfühlt, verurteilt oder ausgeschlossen zu werden. Wir alle sollten versuchen, vorurteilsfreier zu leben und anderen den Raum geben, den sie brauchen, um die Person zu sein, die sie sein wollen.
Was also tun?
RS
Es ist wichtig, neue Dinge zu erleben, viel zu reisen und sich mit Menschen zu umgeben, die anders sind als man selbst. Man kann sich in die Rolle von Minderheiten hineindenken, um zu verstehen, wie es sich anfühlt, isoliert zu sein. Damit übt man sich in Toleranz. Und wenn man doch ein Vorurteil hat, ist es am wichtigsten, dazu zu stehen und es nicht um jeden Preis festzuhalten. Ganz nach dem Motto: „Ich bin skeptisch, lasse mich aber gern vom Gegenteil überzeugen.“
Was machen Vorurteile mit den Menschen, gegen die sie gerichtet sind?
RS
Wer beim Aufwachsen ständig mit Vorurteilen in Berührung kommt, der hinterfragt, ob er der gesellschaftlichen Norm entspricht. Dann stellt sich die Frage, was wichtiger ist: Will man sich selbst gerecht werden? Oder richtet man sich nach der Gesellschaft? Weil man die letzte Frage in der Regel mit Nein beantworten muss, weil man diese Rolle nicht ausfüllen kann, entwickelt man sich zu einer selbstbestimmten und reflektierten Person – die aber auch viel durchmachen muss. Sich in einer Gruppe zu bewegen, die mit Vorurteilen bombardiert wird, ist eine sehr schmerzvolle Erfahrung.
Was sagen Vorurteile über die Menschen aus, die sie haben?
RS
Menschen, die sie haben, meinen es nicht zwangsläufig böse. Sie haben einfach einen geringen Erfahrungsschatz mit neuen Situationen. Wenn man immer in seiner Komfortzone bleibt, dann fühlt man sich unwohl, wenn man diese verlassen muss – zum Beispiel bei einem Treffen mit einer Person, die ganz anders ist als man selbst.
Was ist mit dir, hast du auch Vorurteile?
RS
Als öffentliche Person habe ich gelernt, dass sich viele aus den falschen Gründen für mich interessieren. Deswegen bin ich häufig misstrauisch – das ist auch eine Art Vorurteil, das dazu dient, mich zu schützen. Trotzdem versuche ich, allen Menschen offen zu begegnen und sehr bewusst zu leben.
Was machst du, wenn du bemerkst, dass eine Freundin oder ein Freund von dir Vorurteile hat?
RS
Ich würde nie mit Wut reagieren. Stattdessen versuche ich, der Person vor Augen zu führen, warum ich ihr Verhalten nicht in Ordnung finde. Ich glaube generell, dass ein sanftes An-die-Hand-Nehmen und eine Erklärung oft mehr bringen als eine wütende Predigt – egal ob online oder offline. Die wenigsten Leute gehen durchs Leben und verletzen andere absichtlich. Wer sich dessen bewusst wird, ändert meistens auch sein Verhalten.
Warum sind Begriffe wie Gender-Pay-Gap oder Slut-Shaming wichtig?
RS
Ich bin sehr dankbar, dass solche Begriffe heutzutage Thema sind. Früher wurde es einfach so von der Gesellschaft akzeptiert, dass Männer mehr verdienen als Frauen und dass eine Frau, die ihre Sexualität auslebt, als Schlampe geschmäht wird. Diese Begriffe rütteln uns wach und zeigen uns die Baustellen, die wir immer noch haben. Ich habe das Gefühl, dass wir in einer privilegierten Phase der Menschheit leben: Wir haben so viel Technologie, Reichtum und Bewusstsein geschaffen. Jetzt muss man sich darum kümmern, dass sich die Gesellschaft weiterentwickelt und dem Individuum mehr Raum gibt. Wenn das bedeutet, solche Begriffe tagtäglich neu zu diskutieren, bin ich absolut dafür.
Was möchtest du Jugendlichen gern mit auf den Weg geben?
RS
Sie sollten versuchen, ihr Leben zu leben, ohne darüber nachzudenken, wie andere darüber denken könnten. Am Ende des Tages profitiert man so sehr davon, wenn man mit sich selbst zufrieden ist, und kann anderen viel offener begegnen. Und von einer Gesellschaft, die jede_n so akzeptiert, wie sie_er ist, würden alle profitieren.